Großer Andrang vor dem Partyzelt auf dem Parkplatz vor dem AKW Krümmel. Schon früh waren viele Menschen gekommen, um dem Schriftsteller Günter Grass bei seiner Lesung anlässlich der Veranstaltung "Lesen ohne Atomstrom" zuzuhören. Geduldig warteten sie in einer langen Schlange vor dem Zelteingang auf Einlass, um einen der knappen Sitzplätze zu bekommen.


Der Fernsehmoderator Ingo Werth eröffnete die Veranstaltung mit ausdrücklichem Dank an die Hamburger Unternehmer gegen Atomkraft, welche die Lesetage finanzieren, und deren Mitarbeiter bei Organisation und Durchführung der Veranstaltung sehr tatkräftig helfen. Als neue Sponsoren begrüßte er die Elektrizitätswerke Schönau (EWS) und die Bohlsener Mühle und forderte die Anwesenden sogleich zu einem Wechsel des Stromanbieters auf.

Werth hob die Lesereihe als notwendige Gegenveranstaltung zu Vattenfalls Lesetagen hervor; denn der Konzern habe sich eine Maske aus Kultur, Literatur und Sport übergestreift, um von seinem sprichwörtlichen Kerngeschäft abzulenken. Vattenfalls katastrophale Informationspolitik bezüglich der vielen Pannen im AKW Krümmel ähnele der des Fukushima-Betreibers TEPCO. Harsche Kritik ging auch an den NDR, welcher bei den Lesetagen mit Vattenfall kooperiere. Auch sei bekannt geworden, dass mehrere Mitarbeiter des NDR für Vattenfall gearbeitet hätten, was der anwesende Politik- und Medienwissenschaftler Prof. Hans-Jürgen Kleinsteuber als nicht hinnehmbar für einen öffentlich-rechtlichen Sender bezeichnete.

Erst Spannung, dann Irritation kamen bei den ZuhörerInnen auf, als Ingo Werth einen Überraschungsgast ankündigte. Vattenfall habe darum gebeten, eine Stellungnahme abzugeben. Dem habe man zugestimmt. Und so kündigte Werth Nils Sonderström aus der Vattenfallzentrale in Stockholm an. Die anfängliche Ablehnung und Irritation des Publikum wich schnell herzhaftem Gelächter; denn Nils Sonderström entpuppte sich als Nils Lönnecker von Alma Hoppes Lustspielhaus in Winterhude, der eine gelungene Satire auf Vattenfalls Informationspolitik präsentierte.

Ein großes Transparent auf der Bühne verwies auf die Bäuerliche Notgemeinschaft im Wendland. Und so präsentierte Ingo Werth deren Sprecherin Monika Tiedge. Die Bäuerliche Notgemeinschaft habe sich seit 30 Jahren mit persönlichem und finanziell aufwendigem Einsatz an Blockaden beteiligt. Dabei seien immer wieder Traktoren durch die Polizei beschädigt worden. Da die Autoren der Lesetage auf ihr Honorar verzichteten, bitte man um Spenden. Diese würden der Bäuerlichen Notgemeinschaft zukommen. Monika Tiedge bedankte sich hierfür und lud die Anwesenden für den November ins Wendland ein, wenn wieder ein Castortransport nach Gorleben rollen soll. Sie übte scharfe kritik am niedersächsischen Innenminister Schünemann, der prognostiziert hatte, dass es beim nächsten Transport weniger DemonstrantInnen geben werde. Tiedge hielt ihre Prognose entgegen: 50000 waren es im Vorjahr, in diesem Jahr werden doppelt so viele TeilnehmerInnen den Transport nicht durchkommen lassen!

In den vergangenen Tagen war in den Medien immer wieder davon die Rede, dass Deutschland wegen der abgeschalteten Atommeiler Strom importieren müsse und dass dieses die Frage der Versorgungssicherheit aufwerfe, falls man aus der Atomenergie ausssteige. Hierzu präsentierte Werth den Physiker Gerhard Knieß, der kurz seine langjährige Vision einer atom- und kohlestromfreien Welt vorstellte. In den Wüsten der Welt könne man die Sonnenkraft nutzen. Das sei in 40 bis 50 Jahren zu schaffen. Wenn man das Menschenrecht vor das Aktienrecht stellen würde, könnte es sogar in 20 Jahren gelingen.

Dirk Seifert von Robin WOOD, Mit-Organisator vieler Demonstrationen bedankte sich bei den Hamburger Unternehmern für die atomstromfreien Lesetage und kündigte an, dass es vor Auslaufen des Moratoriums große Demonstrationen geben werden, die zur Zeit in Planung seien.

Nach diesem interessanten und auch kurzweiligen Vorspann kam dann der Höhepunkt der Veranstaltung, als Günter Grass im Blitzlichtgewitter der Fotografen und unter dem Applaus des Publikums das Zelt betrat. Am Pult stehend begann Grass seine Lesung mit dem Kapitel "1955" aus "Mein Zeitalter" als ein Beispiel für die Atomängste in der Zeit des Kalten Krieges und der Nachwirkungen der Atomkatastrophen von Hiroshima und Nagasaki.
Danach las er aus seinem neuesten Werk "Grimms Wörter", eine Liebeserklärung an die deutsche Sprache, das erste Kapitel "Im Asyl". Es ist Grass' sprachgewaltige Beschreibung des politischen Schicksal der Gebrüder Jakob und Wilhelm Grimm und der Göttinger Sieben, die er wortmächtig vortrug. Die Gelehrten wurden  wegen ihres Protestes gegen eine willkürliche Verfassungsänderung ihres Landes verwiesen und fanden in Kurhessen politisches Asyl. Dabei schlug er den Bogen über das schreckliche Dritte Reich bis in die Neuzeit, beklagte das fehlende politische Engagement der Gelehrten und auch der Bürger wie auch die heutige Asylpolitik.

Im Anschluss an die Lesung wurden zwei rote Sessel hereingetragen. Rainer Burchardt, ehemaliger Chefredakteur des Deutschlandfunks, lieferte Günter Grass die Stichworte zu Themen wie Atomkraft, Lobbyismus, Rolle der Medien, Aufgabe des Schriftstellers. Grass ist Atomkraftgegner wie Burchardt auch. Beide kommen aus Wewelsfleth nahe Brokdorf und haben die Schlacht um Brokdorf mit der brutalen Polizeigewalt miterlebt. Grass wettert gegen den Lobbyismus, nicht nur der Atomwirtschaft, sondern auch der Pharmaindustrie. Auch der ADAC kommt bei ihm schlecht weg. Er fordert eine Bannmeile für Lobbyisten um das Parlament. Seine eigene politische Verantwortung sieht Grass nicht so sehr in seiner Rolle als Schriftsteller denn als Bürger. Er sei Sozialdemokrat, allerdings kein Mitglied der SPD, sehe in Willy Brand den letzten Visionär der Partei. Sein Nachfolger Helmut Schmidt habe die Grünen erst möglich gemacht. Zur Rolle der Grünen: In Zukunft gebe es für die SPD keine absoluten Mehrheiten mehr. Sie sollten daher mit den Grünen zusammenarbeiten. immer wieder gibt es zwischendurch Applaus.

Die Stichwörter spannen einen weiten Bogen: Asylpolitik, Abschottung Europas, Nord-Süd-Gefälle (Willy Brandt), Lobbyismus, Gefahr von Notstandsgesetzen im Falle atomarer Katastrophen, Bedeutung der Kritik von Habermas ("Neue Unübersichtlichkeit"), Autoren wie Oskar Negt und Günter Anders. Einig ist man sich in der Kritik an Politik und Journalismus: Wir leben in einer Republik der Blender und Täuscher, es bedarf keiner Kommissionen, die Fakten waren bereits vorher bekannt und klar, so Burchardt. Er verweist auf Stéphane Hessels "Empört Euch!" Journalisten recherchierten nicht mehr und bedienten sich gelieferter Informationen Er zitiert Tucholsky: "Journalisten muss man nicht kaufen, man braucht sie nur einzuladen." Auf die Frage, ob es heute noch weitere kritische Schriftsteller gebe, antwortet Grass, den kritischen Autoren werde in den Verlagen und Feuilletons gesagt, Politik verderbe die Sprache, deshalb zögen sie es vor, eher über sich selbst zu schreiben.

Das Publikum bedankte sich für die anregende Fülle des Dargebotenen mit kräftigem Beifall.

Weitere Informationen bei Lesen ohne Atomstrom.

Zu unserem Fotobericht